Hausverstand
 
Eine Landschaft zerzaust vom rauen böhmischen Wind, behäbige Bauernhöfe in Steinbloßmauerwerk und Scharen von Voest-Pendlern: das waren einmal die Synonyme für eine rückständige Idylle an einer toten Grenze. Heute ist das Mühlviertel eine selbstbewusste Region im Spannungsfeld kräftiger Impulse aus dem Zentralraum und mit dem kreativen Potential der „offenen“ Peripherie. „Hausverstand“ zeigt diesen Paradigmenwechsel am Beispiel des Architektur - Geschehens. Es ist weder Heimatbuch noch Gütesiegel einer handverlesenen Avantgarde. Vielmehr zeigt es, wie Architektur vom Kindergarten bis zum Altenheim, vom kleinen Wohnhausanbau bis zur Gartenstadt, vom revitalisierten Bauernhof bis zum modernen Technologiezentrum eine Region neu definiert. Anschaulich wird Beweis geführt, dass gerade auch die kleinsten Bauaufgaben die sprichwörtliche „Liebe zum Detail“ verdienen.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Unterkagererhof, Auberg
Josef Schütz
 
Einbau einer Herberge in den Unterkagererhof
Auberg 19
Bauherren: Österreichische Naturschutzjugend Kasten, St. Peter a. Wimberg
Planung und Bauleitung: Arch. DI Josef Schütz, Haslach a.d.M.
Arch.jpn. Katsuhito Mitani, Wien
 
Baubeginn: März 1992
Fertigstellung: August 1992
 

Die Landschaft kennt keine ästhetischen Kriterien. Die Not-Wendigkeiten der Existenzsicherung lassen wenig Spielraum für Reflexionen. Der Bauer ist der Letzte, der seine Bauten und Geräte als „schön“ bezeichnen würde. Es bedurfte mehrerer Jahrzehnte Heimat-Literatur und Heimat-Film, um andere Blickwinkel zu erzeugen. Die Brutalität, mit der heute noch Höfe abgebrochen werden, dokumentiert das ursprüngliche Verhältnis zum Alten, Unbrauchbaren: Arbeitsgerät, das nicht mehr taugt, muss weg. Unweit von Haslach liegt der Unterkagererhof. Im heutigen Zustand ist das Gehöft 500 Jahre alt. Der Hausstock ist aus Feldsteinen errichtet und war mit einem Legeschindeldach versehen. Die Stube wird von einem Holztram mit Jahreszahl 1678 beherrscht. Kammer und „Rauchkuchl“ mit bemerkenswerten Tonnengewölben schließen das Raumangebot ab. Heute wird das Gehöft vom Verein „Obermühlviertler Denkmalhof“ erhalten, in dem alle Gemeinden des Bezirks Rohrbach vertreten sind. Die Naturschutzjugend Kasten nutzt den Hof für Kurse und vermietet ihn an Gruppen. Zu diesem Zweck wurde in den Stadel eine kleine Herberge eingebaut.

Umbau des elterlichen Dorfwirtshauses, Sarleinsbach
Franz Riepl
 
Um- und Neubau Gasthof Fleischerei Riepl
Sarleinsbach, Marktplatz 25
Bauherren: Martha und Maximilian Riepl
Planung und Bauleitung:
Univ.Prof. DI Franz Riepl, München
Statik: DI Dr. Edwin Speil, Wels
 
Baubeginn: 1960
Fertigstellung: 1978
 
 

Im Wissen, dass es mit wirtschaftlichen Perspektiven versehene Inhalte braucht, um die architektonische Substanz der Dörfer zu füllen, wurde der ehemals elterliche, aus Gasthaus, Schlächterei, Verarbeitung und Fleischerei bestehende Besitz zwischen 1960 und 1978 in fünf Bauabschnitten erneuert. Umfang und Abfolge des Erneuerungsprozesses waren bestimmt vom Bedarf der einzelnen Wirtschaftsbereiche, von den Finanzierungs-
möglichkeiten und - nachdem der Umbau bei laufendem Betrieb erfolgte - dem Gefüge der Altbauten. Charakteristisch für das traditionelle Dorfwirtshaus ist seine soziale Bedeutung. Sie kann auch bei einem Neubau erhalten bleiben, wenn die wichtigen Details stimmen: Zuordnung der Räume, Größe und Gruppierung der Tische, Belichtung und Beleuchtung, Rhythmus und Teilung der Fenster, der traditionell geschätzte Ausblick zur Straße, der Kontakt mit dem, was draußen geschieht - kurzum, wenn jene wesentlichen Lebensgewohnheiten im Ort berücksichtigt werden, die Kommunikation und Zusammensein bei Tisch ausmachen. Genauso selbstverständlich war es, bei der Gestaltung der neuen Fassaden auf altertümelnde Gesimse und Verzierungen zu verzichten.

Vorbemerkungen
Eine Landschaft, unprätentiös und doch einzigartig im mitteleuropäischen Gefüge, hat in den letzten Jahren eine nachhaltige Veränderung erfahren. Kurvige Schichtbusstrecken sind breiten, die Landschaft durchschneidenden Schnellstraßen gewichen. Sie verbinden - oder umfahren - Orte aus einfachen Steinhäusern und luftig verzierten barockfassadentragenden Bürgerhäusern, die - wie anderswo auch - von Zersiedlung und austauschbaren Einfamilienhaus-Ansammlungen bedrängt werden. Fast unbemerkt von einer geschäftigen Welt mit ihren großen Gesten hat sich in dieser Region über behutsame Anfänge hinweg eine sehr lebendige Architekturszene entwickelt. Diesen Prozess will die vorliegende Dokumentation mit dem programmatischen Titel „Hausverstand“ illustrieren: Indikatoren sind gebaute Beispiele aus etwa den letzten zehn Jahren, die in oft erstaunlicher Dichte anzutreffen sind und sowohl städtebaulich als auch im Umgang mit Form und Material und im innovativen Einsatz moderner Energiekonzepte überzeugen. Sie sind Ausdruck einer Dienstleistungsgesellschaft, die Beweglichkeit und Urbanität auch im ländlichen Raum einfordert und zeigen, dass Tradition und Innovation einander nicht ausschließen, sondern bereichern. „Hausverstand“ ist als Lese-, Lehr- und Nachschlagstoff an Wirtschaft, Medien, Politik, Verwaltung und Schulen adressiert – nicht zuletzt auch als Reiseliteratur für eine wachsende Zahl von Besuchern, was durch eine in Tschechisch abgefasste Zusammenfassung erleichtert werden soll. Denn auch in Südböhmen herrscht Aufbruchstimmung. Davon hatte sich die Zentralvereinigung der Architekten OOE bereits 1990 überzeugen können, als mit einer Fahrt zu den damals noch staatlich organisierten Architekten Kontakt hergestellt wurde, um die alte Kulturachse Linz - Budweis wieder zu aktivieren. Von den südböhmischen Architekten herzlichst aufgenommen, mündeten diese Begegnungen wenig später in gemeinsame Workshops junger südböhmischer und oberösterreichischer Architekten mit anschließenden Ausstellungen im Offenen Kulturhaus Linz und im Kunsthaus Budweis. Seitdem wurde der Kontakt auch im „kleinen Grenzverkehr“ auch nach Freistadt und Haslach immer weiter vertieft. In einem Europa, in dem Grenzen zunehmend an Bedeutung verlieren, ist kultureller Austausch - nun auch zwischen Südböhmen und dem Mühlviertel - keine Utopie geblieben.
Unser Dank gilt allen, die an diesem Projekt tatkräftig und engagiert mitgewirkt haben, und der großen Zahl verständnisvoller Bauherren, den Vertretern der Wirtschaft und den Öffentlichen Institutionen, die Herausgabe und Drucklegung großzügig unterstützt und damit erst ermöglicht haben.
Christa Lepschi, Zentralvereinigung der Architekten OOE
Jaromír Krocák, Tschechische Architektenkammer, Region Budweis
 
Für das Mühlviertel, eine historisch landwirtschaftlich dominierte Region mit Einsprengseln von Handel, Textilindustrie und Tourismus, war die neue Architektur (ab 1900) ein spärliches kulturelles Importgut, das hauptsächlich von Linzer Architekten stammte. Der erste Architekt, der aus der Region kam und der sie ab den 1950er Jahren analytisch und kritisch wahrnahm, ist Franz Riepl. Seine Bauten sind exemplarische Aussagen, aber die Schwerpunkte seines Wirkens haben sich Richtung München und Graz verlagert. Eine radikale Wende brachten erst die 1980er und 1990er Jahre in einer „sanften“ Revolution:
Es waren, wie immer, einzelne Köpfe, die sich mit der Situation nicht abfinden wollten. Eine treibende Kraft war zunächst Josef Schütz, - seinerseits von Adalbert Böker aus Ottensheim gefördert - der mit Vorträgen, Diskussionen, Ausstellungen in Haslach ein Forum aufbaute, das später in den heute schon traditionellen „ Architekturfrühling“ münden sollte. Um sein „Architekturbüro Arkade“ versammelten sich junge Kräfte, die nach dem Studium wieder in die Region zurückkehrten. Anfang der 1990er Jahre wurde die „architektur werk statt“ in Freistadt (Hackl, Pointner, Ullmann) gegründet, die sich ebenfalls in frei gebildeten Projektgruppen organisiert. Das „Modell“ liegt dabei im Zusammenhalt der in der Region arbeitenden Architekten, die auch das Vertrauen der ansässigen Klientel besitzen und bei größeren Aufträgen kooperieren. Was in Vorarlberg vor rund vierzig Jahren in Mitbeteiligungs- und Selbstbaugruppen ein wenig ideologisch strukturiert begann, hat hier mehr den Charakter von Interessensgemeinschaften mit dem Bewusstsein, im gemeinsamen Auftreten die beste Garantie für eine Verbesserung des Architekturklimas abzugeben.

Wenn man den vorliegenden Führer durchblättert, so sind eigentlich alle auf dem Land denkbaren Bau-Aufgaben mit Beispielen abgedeckt. Die Palette reicht von der Landwirtschaft bis zur Schlossrevitalisierung, Themen wie ökologisches Bauen oder Holzbau mit eingeschlossen. Und es gibt auch ortsgebundene Architekturinitiativen, wie etwa in Ottensheim, denen Beispiele wie die Platzgestaltung zu verdanken sind. Das regionalistische Bauen ist heute zwar kein ernst zu nehmendes Architektur-Thema mehr, aber die Region bleibt als geographische und auch bauliche Einheit kulturelle Realität. Das heißt nicht, dass sich die Architekturen der Regionen von der allgemeinen Entwicklung abkoppeln, sondern im Gegenteil; in den Regionen vollzieht sich die Entwicklung in einer besonderen, den ökonomischen, bautechnischen und personalen Ressourcen entsprechenden Form, eben den örtlichen Verhältnissen angepasst. Dass dann in der Zusammenschau doch so etwas wie eine regionale Baukultur entsteht, ist das Geheimnis von Regionen und verdient wahrgenommen, studiert und publiziert zu werden. Dann kann auch so etwas wie „regionale Identität“ entstehen, auf keinen Fall sich abkapselnd, selbstzufrieden oder gar ausgrenzend, sondern in Bewegung bleibend, offen, kritisch, optimistisch.
Friedrich Achleitner